Dr. Anne-Louise Meyer (32)
Der Lebenslauf von Dr. Anne-Louise Meyer bietet alles außer Langeweile: Die heute 32-jährige Assistenzärztin durfte Reden des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler kommentieren, hat 2015 an der Harvard World Model United Nations Conference (MUN) in Seoul teilgenommen und ist nebenberuflich freie Rhetoriktrainerin. In ihrem Interview berichtet sie uns, wie Jugend debattiert ihr bei alldem geholfen hat, wie sie die Rolle des Bundespräsidenten bei Jugend debattiert sieht und welche Rolle sie als Gründungsmitglied des Jugend debattiert Alumni e.V. gespielt hat. Man spürt, dass Kommunikation, Rede und Debatte echte Herzensthemen für sie sind.
Frühe Erfahrungen
Sie haben 2008 im Landeswettbewerb in Niedersachsen gewonnen, waren in Berlin zum Bundesfinale. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit vor 13 Jahren?
Das war alles ziemlich aufregend für mich, denn niemals hätte ich damit gerechnet, in Berlin so weit zu kommen. Ich war damals völlig auf mich allein gestellt in die Hauptstadt gereist und habe erst vor Ort festgestellt, dass viele ihre Lehrer oder Lehrerinnen zur Verstärkung im Rücken hatten. Die haben ihre Schützlinge gecoacht oder sind mit ihnen Argumentationsstrategien durchgegangen. Manche hatten auch ihre Eltern dabei. Ich kam mir zunächst ziemlich verlassen vor, zumal ich sofort gemerkt habe, wie intensiv sich viele der Teilnehmenden durch strategische Absprachen im Vorfeld fit machten. Schließlich fragte ich einen meiner Mitstreiter, ob wir uns auch ein bisschen absprechen wollen. Aber er winkte nur ab: „Nein, dann kennst Du ja meine besten Argumente.“ So eine Haltung kann ich bis heute nicht nachvollziehen, schließlich geht es in einer Debatte ja auch darum, die Argumente der Gegenseite zu verstehen. Tatsächlich habe ich es nach zwei Qualifikationsdebatten geschafft, nach Punkten den ersten Platz zu machen und bin so in die Finaldebatte gekommen. Das war ein riesiger Erfolg für mich. Am Ende wurde ich Vierte.
Was hat Ihr Interesse an Jugend debattiert geweckt?
Mein Bruder hat bei Jugend debattiert mitgemacht, da war er in der 8. Klasse. Er hat dort tolle neue Freunde gefunden, mit denen er eine Band gegründet hat. Darauf war ich ein bisschen neidisch und dachte: „Das ist ja ein toller Wettbewerb, da kann man interessante Leute kennenlernen.“ Dann habe ich festgestellt, dass wir keine Jugend debattiert-AG an der Schule hatten, und dass man nur mitmachen durfte, wenn Jugend debattiert im Unterricht Thema war. Also habe ich in der 12. Klasse meine Deutschlehrerin gefragt, ob wir uns nicht Jugend debattiert vornehmen könnten. Sie hat mich vertröstet, weil sich einige in der Klasse auf ihr Abi in Deutsch vorbereiten mussten. In der 13. Klasse habe ich die Lehrerin wieder gefragt, und dann hat es geklappt – zum Glück.
Sie haben nach dem Abitur ein Praktikum bei dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler gemacht. Konnten Sie Ihre Jugend debattiert-Erfahrungen einbringen?
Ja, tatsächlich! Ich war für zwei Wochen in der Pressestelle des Bundespräsidialamtes und durfte mich vor allem mit den Reden des Herrn Bundespräsidenten beschäftigen. Zunächst habe ich Reden gelesen, die er schon gehalten hatte, und im Anschluss welche, die er noch halten wollte. Ich durfte meine Argumentationskenntnisse, die ich bei Jugend debattiert erworben hatte, anwenden und meine Kommentare mit meinem Vorgesetzten besprechen. Das war eine sehr interessante Zeit.
Welche Bedeutung hat es Ihrer Meinung nach, dass der Bundespräsident Initiator und Schirmherr von Jugend debattiert ist?
Eine sehr große Bedeutung. Es hebt nochmal hervor, welchen Stellenwert die Debatte politischer und gesellschaftlicher Themen für die Demokratie in Deutschland hat. Es kann nur im ureigenen Interesse des Bundespräsidenten sein, mit Jugend debattiert ein Programm zu unterstützen, das sich so niedrigschwellig für die Demokratie einsetzt. Man kommt mit seinen Klassenkameradinnen und -kameraden über politische Themen ins Gespräch, über die man ohne Jugend debattiert nicht so leicht ins Gespräch kommen würde. Dadurch, dass das Programm so in die Breite geht, und trotzdem die Siegerinnen und Sieger der Spitze gesondert fördert, fühlen sich viele Schülerinnen und Schüler angesprochen. Für mich hat die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Themen jedenfalls bewirkt, dass ich analytischer vorgehe und die Dinge hinterfrage. Das sind Grundfertigkeiten, um in einer Demokratie nicht nur zu leben, sondern sie auch mitzugestalten. In diesem Sinne halte ich es für ein wunderbares Symbol, dass der Bundespräsident Schirmherr von Jugend debattiert ist.
Beruflicher Werdegang und Engagement bei Jugend debattiert
Nach der Schulzeit haben Sie Medizin, aber auch Sprechwissenschaft studiert. Gab es durch Jugend debattiert eine besondere Affinität zu diesem Fach?
Ich habe nach dem Abi angefangen, Medizin zu studieren und den Kontakt zu Jugend debattiert gehalten. Fast jährlich bin ich zu den Bundesfinaltagen gefahren, um als Jurorin das Projekt zu unterstützen. Besonders fasziniert haben mich schon damals die Trainerinnen und Trainer, die für Jugend debattiert arbeiten. Sie alle haben eine ganz besondere Persönlichkeit, eine Mischung aus Witz und Leichtigkeit und gleichzeitig haben sie so viel Inhalt rübergebracht und sind individuell auf die Anliegen der Einzelnen eingegangen. Das wollte ich auch lernen, schließlich hat mich Kommunikation immer interessiert. An der Uni Regensburg habe ich dann den Studiengang „Mündliche Kommunikation und Sprecherziehung“ entdeckt. Das habe ich parallel zu meinem Medizinstudium acht Semester studiert. Ohne Jugend debattiert wäre es nie dazu gekommen, dafür bin ich sehr dankbar
Was hat Sie bewogen, sich im Jugend debattiert Alumni e.V. als Vorstand zu engagieren?
Ich bin sogar Gründungsmitglied, habe 2010 in Frankfurt mit an der Satzung gefeilt. Später war ich von 2016 bis 2018 im Vorstand als Beisitzerin tätig, habe das Amt dann später aus beruflichen Gründen abgegeben. Heute bin ich einfaches Mitglied. Was für mich immer besonders bleibt, ist die großartige Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern des Vereins. Das macht einfach Spaß, und ich bin dem Projekt unheimlich dankbar für alles, was ich lernen und erfahren durfte.
Welche Fähigkeiten bringen Jugend debattiert-Alumni mit, die sie im Beruf nutzen können?
Was Jugend debattiert vor allem lehrt, ist das Zuhören und das Bezugnehmen aufeinander. Das sind Eigenschaften, die nicht nur im Beruf weiterhelfen, sondern der ganzen Gesellschaft guttun. Es geht darum, nicht nur sein eigenes Argument lautstark in den Raum zu stellen, sondern die eigene Argumentationslinie immer wieder auszuloten und auch bereit sein, sie anzupassen. Dazu gehört natürlich auch, sich mit der Kontraseite auseinanderzusetzen und sie zu verstehen. All diese Fähigkeiten erwerben die Schülerinnen und Schüler bei Jugend debattiert. Sie sind für das Leben unbezahlbar.
Was hat Jugend debattiert für Ihre medizinische Laufbahn und Tätigkeit bedeutet? Haben Ihre Erfahrungen eventuell Einfluss auf das Patientengespräch, die Kooperation im Ärzte-Team oder sogar auf die ganzheitliche Wahrnehmung des Menschen?
Kommunikation spielt für den ärztlichen Beruf eine entscheidende Rolle. Ich denke, dass das Zuhören und Eingehen auf ein Gegenüber, das möglicherweise eine andere Meinung hat, eine Fähigkeit ist, die ich bei Jugend debattiert kennen gelernt habe. Ich habe diese Fähigkeit in meiner Zeit in der Inneren Medizin genutzt, um mit Patientinnen und Patienten die anstehenden Untersuchungen zu erörtern und sie vielleicht auch von notwendigen Maßnahmen zu überzeugen. In meiner aktuellen Position auf einer Psychotherapiestation gehören das Zuhören und das verständnisvolle Eingehen auf meine Patientinnen und Patienten fest zu meinem Berufsalltag.
Blick über den Tellerrand
Ihre Leidenschaft für Kommunikation hat sie 2015 an der Harvard World Model United Nations Conference (MUN) in Seoul teilnehmen lassen. Worum geht es dabei?
Die MUN Konferenzen sind internationale Planspiel für Schülerinnen, Schüler und Studierende, die die Arbeit der Vereinten Nationen nachstellen. Jeder Teilnehmer vertritt ein Land und bekommt ein Thema, das es zu bearbeiten gilt. Unser Thema war damals „Marine Flüchtlinge“. Dann wird man aufgefordert, mit Vertretern eines anderen Landes eine gemeinsame Resolution zu schreiben. Am Ende gibt es mehrere Resolutionen, über die abgestimmt wird. Ein Kernbestand der Gremienarbeit ist allerdings das Redenhalten, dafür hat man nur eine Minute Zeit, genau wie in der Schlussrede bei Jugend debattiert.
Konnten Sie mit Ihren Jugend-debattiert-Erfahrungen punkten?
Mir hat es sehr geholfen, dass ich durch Jugend debattiert ein Gefühl dafür hatte, was ich in einer Minute überhaupt sagen kann. Man steht dort auf der allgemeinen Rednerliste und wenn man drankommt, muss man relativ spontan auf das eingehen, was die Leute vor einem gesagt haben. Das ist wie in der freien Aussprache von Jugend debattiert, bei der man auch auf die Argumente der anderen reagiert, ohne viel Zeit zur Vorbereitung. Ich habe sicher mit meiner Redefähigkeit überzeugt und damit, dass ich auf die Punkte der anderen eingegangen bin. Das habe ich definitiv bei Jugend debattiert gelernt.
Mittlerweile nehmen regelmäßig Jugend debattiert-Alumni an der World Model United Nations Conference teil…
Ich engagiere mich für den Verein „BeBoosted“, der das Vorbereitungsprogramm für die Teilnehmenden organisiert, die aus Deutschland kommen oder in Deutschland studieren. Ich bilde die Trainerinnen und Trainer aus und bin Ansprechpartnerin für die Seminarkonzeption. Wir trainieren für die Konferenz seit 2014 über Zoom online und da gibt es einige Elemente, bei denen Jugend debattiert-Alumni auffallend gut abschneiden, nämlich in den Bereichen Auftritt, Reden halten, einen Standpunkt sicher vertreten, aber auch zuhören können.
Welche Bedeutung hat die Hertie-Stiftung für Jugend debattiert?
Eine sehr große. Die Hertie-Stiftung hat ja als Grundprinzip, einen Stein ins Rollen zu bringen und dafür zu sorgen, dass kleine Projekte größer werden und sich am Ende selber tragen. Ich glaube, dass die Stiftung sehr über ihren Schatten gesprungen ist, indem sie Jugend debattiert weiter fördert, obwohl die Anlaufphase vorbei ist. Es ist immens wichtig, dass es eine Kontinuität in der Förderung gibt, und da sticht die Hertie-Stiftung ganz klar heraus. Allein schon, dass hauptberufliches Personal da ist, das sich mit der Wettbewerbsorganisation beschäftigt oder sich darum kümmert, dass die Trainings und Seminare funktionieren. Das ist alles hochprofessionell und top organisiert und wäre ohne die Hertie-Stiftung nicht möglich.
Was wünschen Sie Jugend debattiert für die Zukunft? Was würden Sie ändern oder beibehalten?
Ich wünsche Jugend debattiert, dass die Kombination aus Breite und Spitze erhalten bleibt, und dass viele Schülerinnen und Schüler gut geschulte Programmlehrer und -lehrerinnen haben, die ihnen die Freude am Debattieren vermitteln, und zwar an der Basis für alle im Unterricht. Außerdem wünsche ich mir, dass die Jugend debattiert-Wettbewerbe im Ausland noch mehr mit dem Wettbewerb in Deutschland vernetzt werden. Und dass wir alle, egal ob Alumni oder aktuelle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, noch mehr miteinander in Kontakt kommen.
Kommunikation, Rede und Debatte sind Ihre Herzensthemen – wie entspannen Sie nach einem langen Tag?
Ich liebe die Natur und wandere sehr gern. Mein Freund und ich sind häufig in der Gegend um Freiburg unterwegs. Am liebsten steige ich auf einen Gipfel und genieße den Ausblick.
Genießen Sie dann eher die Ruhe der Natur oder unterhalten Sie sich lieber?
Unterhalten natürlich – irgendwie kann ich nicht anders...
Das Interview führte Rena Beeg