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Ingo Matthias (53)

Ingo Matthias lernte das Debattieren als Student in Kalifornien kennen, genau dort schließt sich heute der Kreis, denn er ist inzwischen als Fachberater für Deutsch als Fremdsprache in den USA und unterstützt die Schulen auch bei der Implementierung von Jugend debattiert. Welche Jugend debattiert-Stationen auf diesem Weg lagen, für wen er Flüge bucht und wie er die Demokratie in den USA und in Deutschland sieht, erzählt er uns im Interview.

Jugend debattiert in den USA

Sie sind im Auftrag der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) als Fachberater für Deutsch als Fremdsprache in Kalifornien im Einsatz. Was ist Ihre Aufgabe dort in San Francisco?

Ich unterstütze die Schulen in Kalifornien bei ihrem Deutschprogramm, indem ich die Schulen besuche und im Unterricht hospitiere und Fortbildungen für das Kollegium anbiete. In diesem Rahmen ist meine Aufgabe, auch bei der Unterrichtsentwicklung zu helfen. Deshalb ist mir auch die Implementierung von Jugend debattiert an den Schulen ein Anliegen. Ein besseres Angebot, die Sprache zu erlernen und Spaß dabei zu haben, kann ich mir nicht vorstellen. Eine meiner Hauptaufgaben ist die Organisation und Koordination der Prüfungen zum Deutschen Sprachdiplom. Nicht zuletzt repräsentiere ich die ZfA bei offiziellen Anlässen.

Wie bringen Sie sich in San Francisco für Jugend debattiert ein?

Ich bin für die Organisation des Wettbewerbes zuständig. Im Prinzip mache ich das, was ich als Landesbeauftragter in Bremen auch getan habe. Zudem bilde ich Lehrkräfte aus, die in ihren Lerngruppen Jugend debattiert umsetzen, und organisiere Seminare. Die Organisation läuft hier allerdings anders als in Bremen. Dort habe ich im Landesinstitut für Schule einfach einen Raum gebucht und musste mich ansonsten um nichts kümmern. Hier in Kalifornien organisiere ich auch die Unterkünfte und Flüge für die Teilnehmenden und kümmere mich um das ganze organisatorische Umfeld. Zudem ist es meine Aufgabe, Geld für den Wettbewerb einzuwerben und entsprechende Projektanträge zu stellen, zum Beispiel bei der ZfA oder dem Auswärtigen Amt.

Wegen Corona musste der Wettbewerb 2020 in Nordamerika leider ausfallen. Wie geht es jetzt weiter?

Eigentlich sollte es im vergangenen Jahr richtig losgehen, es gab ja 2019 bereits ein Pilotprojekt meiner Vorgängerin, doch dann ist alles zum Erliegen gekommen. Im Moment bin ich dabei, neue Projektanträge zu stellen, um Gelder zu bekommen. Ansonsten muss der aktuelle Wettbewerb organisiert werden. Positiv ist, dass ich im engen Kontakt mit anderen ZfA-Fachberaterinnen und -beratern in den USA stehe. Wir helfen uns gegenseitig, so dass ich Jugend debattiert auch ein bisschen als unser Gemeinschaftsprojekt empfinde.

Im Moment ist ja alles unter Vorbehalt, denn in Kalifornien und auch in anderen Teilen der USA sind die Schulen geschlossen. Das heißt, man kann nur online unterrichten. Eine große Herausforderung wird es sein, Jugend debattiert online durchzuführen. Es geht natürlich irgendwie, ich habe selbst als Juror an so einem Format, das Alumni entwickelt hatten, teilgenommen. Aber das waren auch erfahrene Debattanten. Es funktioniert nicht so gut, wenn die Schülerinnen und Schüler keine Erfahrungen haben. Hinzu kommt, dass die Jugend debattiert-Teilnehmenden hier in den USA die deutsche Sprache nicht so sicher beherrschen wie die Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Trotz dieser schwierigen Bedingungen wollen wir es in diesem Jahr versuchen und Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler online ausbilden und mit ihnen das Gelernte im Präsenzformat vertiefen, sobald das wieder möglich ist. Unser Ziel ist es, auch unter diesen Bedingungen einen Wettbewerb durchzuführen.

 

Wie wichtig ist es, Jugend debattiert in den USA anzubieten?

Die Kultur des Debattierens kommt ja aus dem angelsächsischen Raum, und Debattieren ist in den USA ein echter Volkssport. So bin ich übrigens selbst ans Debattieren gekommen. Ich habe an der San Francisco State University studiert und war in einem Debating Club. Das war total beeindruckend. Man muss sich vorstellen: Was in Deutschland das Jugend debattiert-Bundesfinale ist, habe ich in Kalifornien jedes Wochenende erlebt. Da kamen Hochschulen aus dem ganzen Land zu Riesenturnieren zusammen. Gerade für Schulen mit Deutschbezug und Deutschprogramm in den USA ist das Debattieren eine super Methode, um die Sprache zu vermitteln. Jugend debattiert gibt es ja bereits in vielen Ländern der Welt, und seit 2019 auch in Nordamerika.

Jugend debattiert steht für Demokratie, auch in den USA Ingo Matthias

Jugend debattiert macht es sich stets zur Aufgabe, durch die Debatte die Demokratie zu stärken. Ist das etwas, was Sie in den USA auch umsetzen können?

Das ist ein wichtiger Punkt, denn letztendlich steht es um die Demokratie in den USA nicht gut, und das seit längerem. Es fängt schon damit an, wie man sich hier Informationen beschafft. Als ich mich zu Beginn der Corona-Pandemie darüber informieren wollte, wie der Stand in den USA ist, habe ich die deutschen Tagesthemen geguckt oder „Anne Will“. Das ist wirklich verrückt, aber es gibt hier nur zwei große Nachrichtensender: Fox News, den Haussender der Republikaner, und CNN, den Haussender der Demokraten. Ansonsten laufen vorwiegend lokale Nachrichtensender, auf denen man verfolgen kann, wie eine Katze aus dem Baum gerettet wird. Wenn man nun aber Fox News und CNN hintereinander guckt, hat man das Gefühl, in zwei verschiedenen Welten zu leben. Eine politische Talkshow, in der unterschiedliche Gäste ihre Standpunkte vertreten, so dass ich mir als Zuschauer eine Meinung bilden kann, habe ich nicht erlebt. Hier hängt die Meinungsbildung sehr davon ab, welchen Nachrichtensender man guckt – und die sind eben sehr polarisierend. Deshalb ist der Mundschutz hier auch häufig ein politisches Statement: Entweder wird er ignoriert, weil man meint, er sei ein Eingriff in die Freiheit, oder Leute wechseln schimpfend die Straßenseite, wenn jemand keinen Mundschutz trägt. Das erklärt auch, warum die Gesellschaft so gespalten ist. Immer seltener kommt es vor, dass die Menschen wirklich einander zuhören, stattdessen gibt es die Pole Schwarz und Weiß. Dabei geht es bei Jugend debattiert gerade darum, in der Gegenposition das Anerkennenswerte zu sehen, und eine Abwägung zu treffen. Das erlebe ich in der öffentlichen Auseinandersetzung in den USA wenig, aber auch in Deutschland ist der öffentliche Diskurs zunehmend polarisiert und polemisch. Die Corona-Pandemie hat das meiner Meinung nach verschärft. Umso wichtiger ist es mir, dass wir durch unsere Arbeit das Handwerk der fairen Debatte, aber auch die dazugehörigen Werte vermitteln, und sei es nur im Fremdsprachenunterricht. Jugend debattiert steht für Demokratie, auch in den USA.

Bedeutung für Schulen, Unterricht und Training

Warum haben Sie sich für den Lehrberuf entschieden?

Ich wollte eigentlich immer Lehrer werden, aber als ich mein Abitur machte, gab es für diesen Beruf nur geringe Perspektiven auf eine Stelle. Deshalb habe ich zuerst eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und anschließend auf Lehramt studiert. Als Student war ich dann auch in den USA, hier in San Francisco. Das war eine tolle Zeit, und irgendwie schließt sich für mich nun der Kreis, seitdem ich als Lehrer in die USA zurückgekehrt bin. Für mich ist der Lehrerberuf einfach wahnsinnig faszinierend. Ich darf mit Menschen arbeiten und gleichzeitig Wissen, Kompetenzen und auch Werte vermitteln. All diese Punkte finde ich auch bei Jugend debattiert wieder, deshalb macht mir die Arbeit für das Programm so viel Freude.

Was war Ihr Schlüsselerlebnis, um sich bei Jugend debattiert zu engagieren - Sie sind immerhin von Anfang an dabei?

Ich hatte gerade in den USA das Debattieren kennengelernt, als ich als Referendar in Bremen das Thema Erörterung durchnehmen sollte. Als ich selber Schüler war, haben mir Erörterungen nie Spaß gemacht, es war einfach langweilig. Deshalb habe ich in meinem Unterricht einfach mal das Debattieren ausprobiert, ich glaube, es war zum Thema Schuluniform. Die Resonanz war unglaublich: Die Schülerinnen und Schülern waren kaum zu bremsen und debattierten noch auf dem Flur weiter, als der Unterricht längst vorbei war. Da habe ich gemerkt, dass die Debatte eine tolle Methode ist, um eine Schriftform wie die Erörterung zu vermitteln. Gleichzeitig wurde 2002 der Bundeswettbewerb Jugend debattiert auch in Bremen ins Leben gerufen. Ich wollte unbedingt dabei sein, nur war ich noch im Referendariat und musste erst mal den damaligen Landesbeauftragten und die Schule überzeugen. Zum Glück hat es geklappt. Bis heute nimmt das Alte Gymnasium in Bremen mit großem Engagement an Jugend debattiert teil, und auch für mich war dieser Startschuss ein Schlüsselerlebnis, um mich für Jugend debattiert zu engagieren.   

Die Schülerinnen und Schülern waren kaum zu bremsen und debattierten noch auf dem Flur weiter [...]. Ingo Matthias

Sie waren später selbst Lehrertrainer und Landesbeauftragter für Jugend debattiert in Bremen. Welche Relevanz hat das Programm an Ihrer ehemaligen Schule?

Jugend debattiert hat unsere ganze Schulkultur unglaublich geprägt. Es ist mittlerweile so, dass die Schülerinnen und Schüler schon zwei Tage nach den Ferien fragen, wann die Jugend debattiert-AG wieder startet, die zusätzlich zur Unterrichtsreihe angeboten wird. Die AG fand zu meiner Zeit immer donnerstags um 19 Uhr statt, und teilweise waren 30 Schülerinnen und Schüler vor Ort, von Achtklässlern bis zu Abiturienten. Es war einfach „cool“, dabei zu sein. Das Tolle ist, dass die Älteren ihre Begeisterung an die Jüngeren weitergegeben haben, so dass man als Lehrer irgendwann gar nichts mehr zu tun brauchte, um die Schülerinnen und Schüler vom Mitmachen zu überzeugen. Deshalb ist das Programm auch in der ganzen Schule so präsent. Es gibt zum Beispiel einen Schaukasten, eine Art Ahnengalerie der Teilnehmenden, die seit 2002 geführt wird. Jeder ist stolz darauf, wenn sein Name da irgendwann landet. Wer im Landesfinale war, bekommt sogar einen fettgedruckten Namen, und ein Schüler sagte mal: „Ich will einfach nur erreichen, dass mein Name dort fett gedruckt steht.“ Er hat es geschafft. Mittlerweile stehen etwa 700 Schülerinnen und Schüler auf der Liste. Letztendlich kann Jugend debattiert für eine Schule sehr identitätsstiftend sein, zum Beispiel wenn „einer“ oder „eine von uns“ zum Regional-, Landes- oder Bundesfinale fährt, dann fiebern alle mit.

Welche Relevanz hat Jugend debattiert an Gymnasien?

Hier begegnen uns ja die Schülerinnen und Schüler, die zum Großteil später studieren werden. Erst kürzlich habe ich bei Facebook geschaut, was aus den Jugend debattiert-Alumni geworden ist, und ich war überrascht, dass viele von ihnen ihrer Leidenschaft für die Debatte weiterhin folgen. Sie engagieren sich zum Beispiel als Fachschaftsprecher an der Uni oder in Parteien, oder sie sind in Gremien aktiv. Auf kleinerer Ebene stelle ich immer wieder fest, dass man in einer mündlichen Abiturprüfung sofort merkt, wer bei Jugend debattiert mitgemacht hat. Das fängt schon an, wenn die Prüflinge den Raum betreten, sie halten sofort Blickkontakt zu allen Beteiligten. Diese Schülerinnen und Schüler sind sehr effizient vorbereitet und füllen mit ihrem Vortrag oft den ganzen Raum. Sie haben weniger Lampenfieber und nutzen die Prüfung gern als Bühne, wie sie es von Jugend debattiert kennen. Jemand, der öfter in einer Aula vor 400 Leuten gestanden hat, lässt sich durch eine mündliche Prüfung mit drei bis vier Personen eben nicht so leicht einschüchtern. Allein diese Nervenstärke, aber auch die Präsenz bei Vorträgen oder in Vorstellungsgesprächen sind in Studium und Beruf von großem Vorteil

Rückblick und Ausblick

Was hat aus Ihrer Sicht dazu beigetragen, dass Jugend debattiert seit 20 Jahren besteht?

Im Vergleich zu anderen Jugendwettbewerben ist Jugend debattiert in der Schule sehr präsent. Da findet nichts in einem abgelegenen Kongresszentrum statt oder einer Uni, sondern direkt in der Schule - und die steht Kopf, sobald die Wettbewerbe beginnen. Das hat in Bremen zum Teil schon Volksfestcharakter: Es gibt Schlachtenbummler, die mitfiebern, oder ganze Schülergruppen, die ihre Favoriten anfeuern. Das ist wirklich toll! Vor 20 Jahren war das natürlich anders, da hatte Jugend debattiert noch etwas „Exotisches“, keiner wusste so richtig, was das eigentlich ist. Aber inzwischen kennt jeder Jugend debattiert, es ist zu einer Marke geworden.

Was wünschen Sie Jugend debattiert für die Zukunft? Was soll bleiben, was darf sich ändern?

Ich kann eigentlich nur sagen: Weiter so! Natürlich hat sich Jugend debattiert immer weiterentwickelt und ist mit der Zeit gegangen, aber das, was das Programm im Kern ausmacht, ist erfolgreich und sollte sich nicht verändern. Was heutzutage noch mehr Thema ist, ist die Stärkung der Demokratie. Vor 20 Jahren war die Demokratie einfach da, so wie Atemluft und Wasser. Inzwischen hat man das Gefühl, dass Demokratie etwas ist, was man verteidigen und unterstützen muss. Jugend debattiert tut das und zeigt einen Gegenentwurf zu dem, was zum Beispiel in sozialen Netzwerken an Hetze und Häme in den Wortbeiträgen passiert. Das finde ich ganz wichtig.

Was vermissen Sie in den USA, wenn sie an Deutschland denken?

Die Menschen hier in Kalifornien sind sehr freundlich, und ich mag diese positive Haltung Neuem gegenüber. Wenn es Probleme gibt, suchen die Menschen immer nach Lösungen. Diese Hemdsärmeligkeit fehlt mir manchmal in Deutschland.  Gleichzeitig vermisse ich mitunter das Kritische und Gründliche, wie wir es in Deutschland kennen. Ansonsten fehlen mir die Jahreszeiten, denn immer nur Sonne geht einem auch irgendwann auf den Keks. Und natürlich vermisse ich Nutella.

Werden Sie irgendwann nach Deutschland zurückkehren?

Meine Zukunft sehe ich auf jeden Fall in Deutschland, denn in den USA gibt es tiefgreifende gesellschaftliche Probleme, die mit dem großen Unterschied zwischen Arm und Reich zu tun haben. Aber bevor Sie fragen: Für Jugend debattiert werde ich mich natürlich weiter engagieren, ob in Amerika, Deutschland oder anderswo.

 

Das Interview führte Rena Beeg