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Marian Schreier (31)

Er wurde mit 25 Jahren jüngster Bürgermeister Deutschlands, ist seit 2015 Chef im Rathaus von Tengen, einem 4600-Einwohner-Städtchen in Baden-Württemberg: Marian Schreier (31) hat sich seinen Berufswunsch Politiker erfüllt. Was Jugend debattiert damit zu tun hat, wie der gebürtige Stuttgarter die Kommunalpolitik erlebt, und wen er gern mal nach Tengen zum Kaffee einladen würde, erzählt er in unserem Interview. 

Einstieg in das Bürgermeisteramt

Das Bürgermeisteramt zeichnet sich dadurch aus, dass es sehr vielseitig und abwechslungsreich ist, so dass es nicht immer den gleichen Tagesablauf gibt. Marian Schreier

Sie sind seit sechs Jahren Bürgermeister von Tengen, wie starten Sie in den Tag? Gibt es eine Routine?

Das Bürgermeisteramt zeichnet sich dadurch aus, dass es sehr vielseitig und abwechslungsreich ist, so dass es nicht immer den gleichen Tagesablauf gibt. Das einzige, was man Routine nennen könnte, ist die Lektüre von Zeitungen. Morgens sondiere ich als erstes die regionale und nationale Medienlandschaft und prüfe, ob in der Nacht irgendwelche Dinge passiert sind, die vor Ort sofort Handlungen erfordern.

Sie waren 2015 bei Amtsantritt mit 25 Jahren jüngster Bürgermeister Deutschlands. Wie sind Sie in die Politik gekommen?

Ich war schon sehr früh politisch interessiert und habe Politik und Verwaltung studiert, zunächst in Konstanz am Bodensee, dann in Oxford in Großbritannien. Später habe ich im Berliner Büro des ehemaligen Finanzministers Peer Steinbrück gearbeitet. Es war immer mein Berufswunsch, im politischen Umfeld zu arbeiten. Zum Bürgermeisteramt bin ich allerdings relativ spontan gekommen. Denn obwohl ich mir vorstellen konnte, für ein politisches Amt oder Mandat zu kandidieren, war es nicht mein Plan, das alles mit 25 Jahren in die Tat umzusetzen. Ein guter Studienfreund hatte mich damals darauf aufmerksam gemacht, dass die Bürgermeisterwahl in Tengen ansteht. Ich habe mir das dann im Herbst 2014 alles genau angesehen, und bin nach und nach zu dem Entschluss gekommen, zu kandidieren. Allerdings musste ich noch warten, bis die Stelle offiziell ausgeschrieben wurde, weil es hätte sein können, dass die Wahl vor meinen Geburtstag fällt, dann wäre ich in Baden-Württemberg mit 24 Jahren zu jung gewesen, um kandidieren zu können.

Was reizt Sie an Ihrer Aufgabe?

An der Kommunalpolitik reizen mich zwei Dinge: Einerseits hat man mit der gesamten Bandbreite an gesellschaftlichen Themen zu tun, zum Beispiel mit der wirtschaftlichen Entwicklung, sozialen Fragen bis hin zur Gestaltung des öffentlichen Raums. Auf der anderen Seite ist es eine unmittelbare, sehr direkte Form, Politik zu gestalten. Ich stehe ständig im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern, und das macht mir Spaß.

Erfahrung bei Jugend debattiert

Wie sind Sie zu Jugend debattiert gekommen?

Zum ersten Mal habe ich Jugend debattiert im Religionsunterreicht kennengelernt. Auch da waren es bereits die gesellschaftspolitischen Themen, die mich besonders interessiert haben, und natürlich hat mir diese besondere Form der Debatte großen Spaß gemacht. Später habe ich dann in der Jugend debattiert-AG mitgemacht. Das war eine interessante und lehrreiche Zeit, um die eigenen Debattier-Fähigkeiten zu verfeinern.  

Hat Ihr Engagement für Jugend debattiert Ihren Berufswunsch Politiker beeinflusst?

Jugend debattiert war auf jeden Fall ein Baustein auf dem Weg zum politischen Interesse während der Schulzeit. Vor allem, weil es neben der eigentlichen Debatte auch eine Form der Auseinandersetzung mit politischen Themen ist. Aber es war nicht der einzige Grund für meine Entscheidung. Bei mir gab es nicht diese Sache, dieses eine Ereignis, wie es zum Beispiel für andere der Kniefall von Willy Brandt gewesen ist, um in die SPD einzutreten. Es war ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, aber Jugend debattiert war sicher ein relevanter Aspekt.

Sie wurden 2009 zweiter Jugend debattiert-Landessieger in Baden-Württemberg. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf Ihr Selbstbewusstsein als Politiker, vor allem im Austausch mit Bürgern, aber auch im Umgang mit politischen Herausforderern?

Jugend debattiert schult in öffentlicher Rede und Diskussion, so dass man Übung darin bekommt, sicher aufzutreten. Das hilft in der Politik und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Zudem lernt man durch Jugend debattiert, politische und gesellschaftliche Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. So haben Fragestellungen, die zunächst eindeutig erscheinen, immer auch eine andere Perspektive. Diese einnehmen zu können, und die Dinge auch mal aus anderer Sicht zu sehen und zu begreifen, halte ich für die politische Arbeit sehr wichtig. Nur so gelingt es uns Politikern, die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Vielfalt zu verstehen. Das andere, was ich gelernt habe, ist, Argumente entwickeln zu können. Politik ist zu einem großen Teil Überzeugungsarbeit, man möchte andere Menschen für die eigenen Ideen oder für die Projekte der Stadt gewinnen und in Entscheidungsprozesse einbinden. Das geht im Wesentlichen über Argumente. Jugend debattiert war da eine große Hilfe und hat mich darin geschult, gut strukturierte und nachvollziehbare Argumente zu entwickeln. Als Politiker profitiere ich in meinem Alltagsgeschäft immer wieder von diesen Erfahrungen. Aber das gilt sicher nicht nur für meinen Beruf. Jugend debattiert schult Fähigkeiten und Kompetenzen, die in vielen Bereichen wichtig sind, auch für eine Karriere in der Zivilgesellschaft oder in der Privatwirtschaft. 

Sie waren Redenschreiber für Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Wie kam es dazu, und konnten Sie Ihre Jugend debattiert-Erfahrungen einbringen?

Während des Bundestagswahlkampfes 2013 habe ich ein Praktikum in der Bundestagswahl-Kampagne der SPD gemacht und konnte danach in das Bundestagsbüro von Peer Steinbrück wechseln. Redenschreiben hat sehr viel mit Recherche und Struktur zu tun, man arbeitet quasi anhand einer Idee oder Gliederung des Redners. Da haben die Erfahrungen aus der Jugend debattiert-Zeit schon geholfen, um Themen in eine sinnvolle Struktur zu bringen.

Jugend debattiert schult Fähigkeiten und Kompetenzen, die in vielen Bereichen wichtig sind, auch für eine Karriere in der Zivilgesellschaft oder in der Privatwirtschaft. Marian Schreier

Erfahrungen und Ziele in der Politik

Sie haben im vergangenen Jahr für das Amt des Oberbürgermeisters in Stuttgart kandidiert und sind in der Stichwahl Zweiter geworden. Jetzt sitzen Sie weiterhin in Tengen - ein Rückschlag?

Nein, auf gar keinen Fall! Die Kampagne in Stuttgart hat großen Spaß gemacht, weil wir zeigen konnten, dass ein neuer Politikstil grundsätzlich erfolgsfähig ist. Am Anfang des Jahres 2020 kannte mich kaum jemand in Stuttgart und die wenigsten Beobachter hätten damit gerechnet, dass ich am Ende auf fast 75.000 Stimmen komme.  Auch die Arbeit in Tengen macht mir weiter Freude – wir haben für dieses Jahr wieder spannende Projekte auf den Weg gebracht.

Sie haben in Stuttgart auf eigene Rechnung und ohne Rückendeckung Ihrer Partei, der SPD, kandidiert. Woher haben Sie die Überzeugung und das Selbstbewusstsein genommen zu sagen: „Ich mache das jetzt einfach!“

Oberbürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg sind Persönlichkeitswahlen, bei denen Parteien keine formale Rolle spielen. Es kann also jeder und jede dort kandidieren, es brauchte keine offizielle Nominierung. Das ist anders als in anderen Bundesländern. Es kommt also auf das persönliche Profil und das eigene inhaltliche Angebot an. Das war für meine Bewerbung ausschlaggebend. Zu dem Nominierungs- und Auswahlverfahren der SPD im Vorfeld der OB-Wahl in Stuttgart habe ich an anderer Stelle schon alles gesagt.

Das sind natürlich auch Maßnahmen zur Demokratiestärkung, wenn man so möchte, weil sich die Bürgerinnen und Bürger in kommunalpolitische Fragen sehr stark einbringen können. Marian Schreier

Ihr Vater ist Dirigent und Ihre Mutter Opernsängerin – hatten Sie schon immer die große Bühne als Zukunftsziel im Auge?

Nein, das ist ganz und gar nicht so! Das wäre auch die falsche Motivation, wenn man Politik wegen des öffentlichen Auftrittes machen würde. Wenn die große Bühne die Hauptmotivation ist, sollte man Schauspielerin oder Schauspieler werden. Meine Motivation ist, Dinge zu verändern und zu gestalten. Politik geht nun notwendigerweise damit einher, dass sie öffentlich stattfindet, weil man gesellschaftliche und öffentliche Anliegen verhandelt, aber die Motivation kann nicht der Auftritt sein. Bei mir jedenfalls nicht.

Welche Projekte stehen bei Ihnen gerade in Tengen an?

Die übergeordnete Aufgabe für ländliche Gemeinden ist, dass man sie angesichts großer Herausforderungen, wie es sie in unterschiedlichen Feldern von Demografie bis hin zur Digitalisierung gibt, zukunftsfähig hält. Deshalb braucht es Aktivität in vielen Feldern: Das reicht vom Glasfaserausbau bis zur ärztlichen Versorgung. Konkrete Projekte für dieses Jahr sind unter anderem der Neubau eines Ärztehauses in genossenschaftlicher Trägerschaft, um die ärztliche Versorgung zu gewährleisten.

Gibt es Jugend debattiert auch in Tengen?

Nein, hier gibt es nur eine Grundschule.

Jugend debattiert hat es sich ja zur Aufgabe gemacht, die Demokratie zu stärken. Gibt es Demokratie-Projekte in Tengen?

Unsere kommunale Demokratie ist überaus intakt und stark. Wir haben eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent, was hoch ist, und wir haben ein sehr ausgeprägtes bürgerschaftliches Engagement mit etwa 60 Vereinen bei 4600 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wir setzen außerdem stark auf Bürgerbeteiligung. Im vergangenen Jahr hatten wir zum Beispiel einen Bürgerentscheid zum Thema Windkraft und sind davor in einen umfangreichen Dialogprozess mit den Bürgerinnen und Bürgern gegangen. Das sind natürlich auch Maßnahmen zur Demokratiestärkung, wenn man so möchte, weil sich die Bürgerinnen und Bürger in kommunalpolitische Fragen sehr stark einbringen können.

Kommunalpolitiker erfahren oft Hass und Häme im Netz oder sogar direkte Attacken, so dass einige schon hingeschmissen haben. Kennen Sie solche Anfeindungen?

Ja, das habe ich auch schon erlebt, im Oberbürgermeister-Wahlkampf in Stuttgart wurde zum Beispiel mein Auto beschädigt. Aber auch davor gab es schon Vorfälle. Wenn man ein öffentliches Amt innehat, ist man es schon gewohnt, dass es auch Kritik gibt. Andererseits muss man versuchen, eine Form der Distanz für sich zu finden. Ich habe solche Vorfälle Gott sei Dank nicht so regelmäßig erlebt wie manche Kolleginnen und Kollegen.

Was heißt „eine Form der Distanz“ genau?

Naja, dass man sich davon nicht verrückt machen lässt.

Persönliches

Sie haben in Oxford studiert - haben Sie in Großbritannien auch die Hochschuldebatte kennengelernt?

Ja, ich bin auch noch Mitglied in der Oxford Union, dem Debattierclub der University of Oxford. Ich war ein paar Mal bei Debatten und Veranstaltungen vor Ort dabei, aber ich habe nie selbst aktiv mitdebattiert. Davor habe ich an der Uni Konstanz beim Hochschuldebattieren mitgemacht, aber auch nicht zu oft. Es fehlte leider die Zeit.

Wer ist Ihr rhetorisches Vorbild?

Da gibt es nicht das eine Vorbild, auch politisch nicht. Peer Steinbrück ist zum Beispiel jemand, der sehr pointiert formulieren kann. Deswegen ist es aber nicht so, dass ich mich an ihm oder jemand anderem orientieren würde. Da muss jeder seinen eigenen Stil finden. Es macht keinen Sinn, jemanden zu kopieren. Das merkt das Publikum sehr schnell, weil man dann auch an Authentizität verliert.

Neuer Versuch. Wen finden Sie denn rhetorisch beeindruckend?

Beeindruckend wären jetzt auch nicht meine Wortwahl. Aber mir gefällt die Rhetorik von Sigmar Gabriel oder auch Gregor Gysi. Beide kommen auf den Punkt und verstehen es auch, das Publikum emotional zu erreichen. 

Wie lange bleiben Sie noch als Bürgermeister im Amt - lassen Sie sich wiederwählen?

Ich bin bis 2023 gewählt und werde im Vorfeld der nächsten Wahl bewerten und entscheiden, wie es weitergeht.

Wie verbringen Sie Ihre Zeit außerhalb der Politik? Gibt es Hobbys?

Selbstverständlich. Ich gehe gern joggen oder lese gern. Und wenn die Corona-Beschränkungen gelockert sind, freue ich mich, wieder mit Freunden in eine Bar oder essen zu gehen.

Was lesen Sie?

Das ist sehr unterschiedlich. Einerseits politische Bücher, aber auch Romane, zurzeit ist es „Streulicht“ von Deniz Ohde. Das ist ein Buch über eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ihr Aufwachsen beschreibt und welche Nachteile und sozialen Ungerechtigkeiten sie erfahren hat.

Wenn Sie jemanden nach Tengen zum Kaffeetrinken einladen dürften, egal wen, wer wäre das?

(überlegt eine Weile) Barack Obama. Ich finde ihn und seine Biografie unglaublich spannend und politisch sehr interessant. Ja, das wäre ein toller Gesprächspartner.  

 

Das Interview führte Rena Beeg

Jugend debattiert schult in öffentlicher Rede und Diskussion, so dass man Übung darin bekommt, sicher aufzutreten. Das hilft in der Politik und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Marian Schreier