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Simone-Tatjana Stehr

Vor fast 20 Jahren hat es Simone-Tatjana Stehr geschafft, eine Klasse angehender Damen- und Herrenschneider/innen für Jugend debattiert zu begeistern, inzwischen ist sie leitende Direktorin des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung in Oberhausen (NRW) und setzt sich dafür ein, Jugend debattiert bundesweit fest in der Lehrerausbildung zu implementieren. In unserem Interview erklärt sie, wieso dabei alle nur gewinnen können, was hinter dem „Jugend debattiert Schulschild“ steckt und wie Jugend debattiert ihr eigenes Persönlichkeitsprofil geprägt hat.

Engagement bei Jugend debattiert

Jugend debattiert ist am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Oberhausen fester Bestandteil der Lehrerausbildung, weil wir der Überzeugung sind, den Berufsanfängern im Lehramt mit dem Programm großartige Möglichkeiten zu bieten. Simone-Tatjana Stehr

Seit fast 20 Jahren engagieren Sie sich für Jugend debattiert. Wie kam es dazu?

Nach meinem Referendariat im Jahr 2000 bin ich in den Schuldienst gegangen und startete an einem Berufskolleg in Düsseldorf. Dort unterrichtete ich junge Menschen in Politik und Deutsch, die parallel eine Berufsausbildung absolvierten. Eines Tages wurde ich aus dem Schulministerium angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, bei Jugend debattiert „mitzumachen“. Woher der Kontakt zu mir kam, weiß ich bis heute nicht, aber ich war grundsätzlich offen für das Angebot. Irgendwie klang das Projekt spannend, vor allem weil es schulübergreifend sein sollte. Ich bin Lehrerin für Gymnasien und Gesamtschulen und hatte großes Interesse, auch mit anderen Schulformen zusammenzuarbeiten. Entscheidend war, dass mir das Konzept gefiel, und so habe ich den ersten Schritt gemacht und mit angehenden Damen- und Herrenschneidern Jugend debattiert begonnen. Das war eine interessante Erfahrung.

Worin bestand die Herausforderung an einem Berufskolleg?

Zunächst musste ich thematisch als auch in der Aufbereitung Möglichkeiten finden, die Klasse für Jugend debattiert zu gewinnen. Berufsschüler definieren sich über andere Bereiche als Gymnasiasten, ihnen geht es natürlich darum, zügig erfolgreich ihre Ausbildung abzuschließen, um möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen. Ich weiß noch, dass ich es damals als Politiklehrerin besonders erschreckend fand, dass den Schneider-Lehrlingen oftmals von ihren Arbeitgebern nahegelegt wurde, sich in keiner Gewerkschaft zu organisieren. Genau zu diesem Thema haben wir dann Ansatzpunkte gefunden, um in eine Debatte einzusteigen. Gleichzeitig lernten die Berufsanfänger etwas über ihre Rechte. Ich glaube, ich darf sagen, dass der Austausch für uns alle eine wertvolle Erfahrung war.  

Heute bilden Sie Referendarinnen und Referendare aus. Welche Relevanz hat Jugend debattiert für Ihre Institution?

Jugend debattiert ist am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Oberhausen fester Bestandteil der Lehrerausbildung, weil wir der Überzeugung sind, den Berufsanfängern im Lehramt mit dem Programm großartige Möglichkeiten zu bieten: Einerseits können sie Methoden und Inhalte für den eigenen Unterricht erfahrbar machen und bekommen gleichzeitig eine wertvolle Anleitung, um das Debattieren in allen Fächern umzusetzen. Anderseits haben diese jungen Leute, die überwiegend direkt von der Uni kommen, die Chance, mit Hilfe des Programms ihre eigene Persönlichkeit zu coachen. Wie verhalte ich mich zum Beispiel im Gespräch mit der Schulleitung, wenn ich Interessen verfolge? Oder wie kann ich in einer Konferenz ein Thema platzieren, das für mein Fach wichtig ist? Das Format ist hier eine immense Unterstützung, eben auch für die Lehrkräfte selbst.

In der Ausbildung nutzen wir die Möglichkeit, das Debattieren zu unterrichten und selbst zum Gegenstand der Ausbildung werden zu lassen. Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer werden von Fachleitungen, die bei uns im Haus an Fortbildungen zum Thema teilnehmen, trainiert. Das Gelernte nutzen und reflektieren sie für ihren Unterricht. So profitieren sie auch persönlich, da sie während des Trainings die Perspektive der Schüler einnehmen und im zweiten Schritt auf einer Metaebene für den Unterricht reflektieren.

Wenn Jugend debattiert schon in der Ausbildung zum Curriculum gehört, ist es auf gewisse Weise auch ressourcenschonend. Die jungen Kolleginnen und Kollegen kommen bereits mit diesen Fähigkeiten in die Schulen und können darauf im Alltag aufbauen. Idealerweise werden sie dann regelmäßig weitergebildet, um sich entsprechend zu professionalisieren und offen zu bleiben und um den Austausch mit anderen Experten zu pflegen. Genau wegen dieser vielen Pluspunkte habe ich seit einigen Jahren großes Interesse daran, Jugend debattiert bundesweit als Format in der Lehrerausbildung zu implementieren.

Wie sind Sie in Ihrem eigenen Haus vorgegangen?

Zunächst haben wir die Türen für den Wettbewerb geöffnet. Seit 2008 veranstalten wir die Landesqualifikation NRW bei uns im Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, das sich damals noch Studienseminar Oberhausen nannte. Dadurch wecken wir Interesse und Aufmerksamkeit. Dies führte schließlich dazu, dass sich Fachleitungen beider Lehrämter, die in Oberhausen ausgebildet werden (Gymnasien/Gesamtschulen und Haupt, Realschulen, Sekundarschulen) gemeinsam dem Projekt zugewandt haben, um die Debatte im Unterricht im Format Jugend debattiert aus Sicht der Ausbildung zu reflektieren. Eine Arbeitsgruppe hat schließlich mit viel Engagement einen Lehrplan erarbeiten, der mittlerweile erfolgreich m Bestandteil der Ausbildung in unserem Hause geworden ist und ständig - auch in enger Zusammenarbeit mit der Hertie-Stiftung - weiterentwickelt wird.

Lehrerausbildung scheint Ihnen ein Herzensthema zu sein - was fasziniert Sie daran?

Man kann die Berufsanfänger einfach unglaublich gut motivieren, weil sie sehr viel Engagement und Energie haben. Das macht viel Freude. Als Fachleitung habe ich zudem die Möglichkeit, immer wieder neu auf Unterricht zu blicken. Da ist ein Format wie Jugend debattiert natürlich willkommen, weil man es in allen Fächern anwenden kann, nicht nur in Deutsch oder Politik, sondern auch in Ethik, Religion oder Philosophie. Ich finde es auch faszinierend, wenn die jungen Kolleginnen und Kollegen in die Schulen strömen und es schaffen, die Erfahrenen für Neues zu begeistern. Das ist besonders schön an Schule, da ist immer Bewegung - und in der Lehrerausbildung hat man zusätzlich noch den Raum, auch etwas zu experimentieren.

Sie waren zehn Jahre Landesbeauftragte für Jugend debattiert in NRW, was waren die größten Herausforderungen?

Die Qualität zu sichern. Bildungseinrichtungen leben häufig davon, dass sich Lehrkräfte untereinander etwas mitteilen und weitergeben. Ich weiß durch zahlreiche Rückmeldungen von Lehrerinnen und Lehrern, dass sie es als große Wertschätzung empfunden haben, wie die Hertie-Stiftung und ihre Partner das Projekt installiert haben. Es gibt nicht den oder die eine Kollegin, die Erfahrungen und Kenntnisse intern weiterreicht, sondern man wird durch ein sehr professionelles Programm geleitet. Das hat eine außergewöhnliche Qualität. Die große Herausforderung als Landesbeauftragte war für mich, dies alles zu stemmen, damit diese Qualität erhalten bleibt, und das Projekt gleichzeitig wächst. Das war nicht immer einfach.

Warum nicht, haben sie ein Beispiel?

Ein Ziel war ja, dass wir viele Schulen für das Projekt gewinnen wollten. Nur je mehr man wächst, desto schneller fließen die Ränder aus und man hat kaum eine Chance sicherzustellen, dass ein Format so gelebt wird, wie es gedacht ist. Es reicht eben nicht, wenn Lehrerinnen oder Lehrer von sich meinen, dass sie von Berufs wegen Debattieren unterrichten können und somit aus dem Stand in der Lage wären, Jugend debattiert umzusetzen. Das Besondere an diesem Format ist ja, dass es verbindliche Regeln und Strukturen gibt, die es vergleichbar und handhabbar machen. Es war immer unser Ziel, dass sich neue Schulen nicht nur ein „Wir sind Jugend debattiert-Schule“-Schild an die Tür hängen und dann ihren eigenen Weg gehen, sondern dass dieses Format auch ernst genommen und gelebt wird. Hier Überzeugungsarbeit zu leisten, war schon eine anspruchsvolle Aufgabe, die letztlich aber für viele zu einem wichtigen Anliegen wurde

Ich weiß durch zahlreiche Rückmeldungen von Lehrerinnen und Lehrern, dass sie es als große Wertschätzung empfunden haben, wie die Hertie-Stiftung und ihre Partner das Projekt installiert haben. Simone-Tatjana Stehr

Sie sind auch Fraktionsvorsitzende der CDU in Oberhausen. Wie sind Sie zur Politik gekommen?

Das war noch vor Jugend debattiert, im Jahr 1997. Ich hatte mein Politikstudium abgeschlossen, war aber nicht überzeugt davon, dass mein theoretisches Wissen reichen würde, um Schülerinnen und Schülern erklären zu können, wie Politik in der Praxis funktioniert. Wie ich zum Beispiel ein Jugendparlament in der Stadt einrichten kann oder eine neue Bushaltestelle „beantrage“. Das hieß für mich, selbst erst mal politisch aktiv zu werden, um Erfahrungen zu sammeln. Außerdem wollte ich in Oberhausen mitgestalten. So fing ich in der Bezirksvertretung an und habe dort von der Pike auf praktische Politik gelernt, bis ich 2009 erstmals im Rat der Stadt saß und mittlerweile der Fraktion vorsitze.

Anknüpfungspunkte zu Jugend debattiert

Das, was ich durch Jugend debattiert gelernt habe, gehört zu den Inhalten, von denen ich auch in meinem Lehrersein unendlich profitieren konnte. Simone-Tatjana Stehr

Was bedeutet Jugend debattiert für Ihre Laufbahn als Lehrerausbilderin, aber auch als Politikerin?

Nach fast zwanzig Jahren kann ich sagen, dass Jugend debattiert mein Persönlichkeitsprofil geprägt hat. Allein schon durch die vielen Menschen und Netzwerke, die ich kennenlernen durfte. Das, was ich durch Jugend debattiert gelernt habe, gehört zu den Inhalten, von denen ich auch in meinem Lehrersein unendlich profitieren konnte. Vor allem der Austausch und die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln waren für mich gewinnbringend. So hatte ich die Chance, als Landesbeauftragte für Jugend debattiert eng mit dem Schulministerium in NRW zusammenzuarbeiten und das Programm weiterzuentwickeln. So etwas formt. Aber auch die Jugend debattiert-Tugenden, wie Zuhören oder sich in andere Positionen hineinzuversetzen, helfen mir jeden Tag, im Job ebenso wie als Politikerin.

Die Politik lebt von der Debatte, und hier hat mir Jugend debattiert immer wieder Sicherheit gegeben. Themen und Interessen durchzusetzen ist ein Kernanliegen der kommunalpolitischen Arbeit. Meine Kenntnisse rund um die Debatte haben mir Orientierung gegeben. Mir ging und geht es immer um den zielgerichteten Austausch von Argumenten. Auch die Tatsche, eingestehen zu können, dass man durch Argumente der Gegenseite überzeugt werden kann, ist für politisches Handeln wichtig. Die Regeln von Jugend debattiert habe ich verinnerlicht und sie helfen mir, auch in äußerst schwierigen Situationen, die Sache im Blick zu behalten und Standpunkte zu vertreten.

Wie wichtig ist der Bundespräsident als Schirmherr und Initiator für Jugend debattiert?

Sehr wichtig! Ich fand es schon zu meiner Zeit spannend, dass der jeweilige Bundespräsident bei Veranstaltungen vor Ort war. Das erste Bundesfinale von Jugend debattiert fand im Schloss Bellevue statt, damals war das Projekt noch ganz klein. In dieser prunkvollen Kulisse trafen wir dann auf Bundespräsident Johannes Rau, der ausgesprochen nahbar und interessiert war. Für mich war es absolut beindruckend, dass Schülerinnen und Schüler sich überhaupt getraut haben, vor diesem erlesenen Publikum zu debattieren. Das war übrigens das Jahr, in dem eine Hauptschülerin aus NRW im Bundesfinale stand, großartig! Dass der Bundespräsident Schirmherr ist, gibt Jugend debattiert eine besondere Wertigkeit. Hier fördert und interessiert sich jemand, der in besonderem Maße für Werte und für unser Land steht.

Welche Bedeutung hat die Gemeinnützige Hertie-Stiftung für Jugend debattiert?

Die Hertie-Stiftung ist mir wirklich ans Herz gewachsen, insbesondere durch Ansgar Kemmann, ohne den Jugend debattiert heute nicht wäre, was es ist. Der gesamte Unterbau wurde mit so viel Kompetenz auf den Weg gebracht, das ist schon einmalig. Vor allem die Qualität und die immer wiederkehrende Frage: „Wie können wir uns verbessern?“ beeindrucken mich bis heute. Ich habe immer größten Respekt davor gehabt, welche Reaktionsgeschwindigkeit die Hertie-Stiftung in Bezug auf Veränderungen hat. Als sich zum Beispiel die Flüchtlingssituation zuspitze, wurde an vielen Stellen lange debattiert, was zu tun sei. Die Hertie-Stiftung und Ihre Partner haben gehandelt und gesagt: „Wir wollen denjenigen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, Angebote machen.“ Sofort wurden Sprachbausteine entwickelt, so dass man das Lernen einer neuen Sprache förderte und gleichzeitig ein Debattenformat transportierte, um auch kulturelle Bausteine mitzuliefern. Dasselbe bei Corona, da ist man ganz schnell auf digitale Formate umgestiegen, um weiter präsent zu sein – das Curriculum für Distanzunterricht wurde entwickelt und stellt ein weiteres Instrument dar. Hinzu kommt, dass Jugend debattiert nun seit 20 Jahren besteht, das ist ein langer Zeitraum, und es braucht einen langen Atem, um ein ganzes Land gleichermaßen zu bespielen. Über 200.000 Schülerinnen und Schüler nehmen jedes Jahr kostenlos an dem Programm teil. Nicht zu vergessen, dass es Jugend debattiert auch schon in vielen anderen Ländern der Welt gibt, von Europa, Asien bis nach Amerika. Aus meiner Sicht ist Jugend debattiert letztlich ein Geschenk an die Gesellschaft.  

Was wünschen Sie Jugend debattiert für die Zukunft? Soll sich etwas ändern?

Ich wünsche Jugend debattiert, weiter qualitativ und quantitativ zu wachsen und noch mehr Anhänger und Freunde zu gewinnen. Bleiben sollte unbedingt diese maximale Flexibilität. Ich kenne wenige Programme, die eine so große Bereitschaft haben, sich zu bewegen und sich selbst auf den Prüfstand zu stellen. Teilhabe ist dabei selbstverständlich, das habe ich selbst erleben dürfen. Es gab in Expertenrunden, in denen immer auch Lehrerinnen und Lehrer nach ihrer Meinung gefragt wurden, genauso wie Schülerinnen und Schüler. Natürlich wünsche ich mir, dass die Bundesländer diese Sicht teilen und vor allem anerkennen, dass so ein Programm nicht zur Routine werden darf. Es muss etwas Besonderes bleiben. Auch wenn es ein Kraftakt ist, kann und muss es uns gelingen, die Kleinen und die Großen weiter für die Debattenkultur zu gewinnen. Dann bekommt vielleicht auch die Idee, Jugend debattiert als festen Bestandteil in die Lehrerausbildung zu integrieren, irgendwann Flügel.

Als Lehrerin und Politikerin müssen Sie jeden Tag viel reden. Wie kommen Sie zur Ruhe?

Schön, dass sie das fragen. Ich komme ehrlich gesagt selten zur Ruhe, weil ich neben der Zentrumsleitung ein sehr zeitintensives Ehrenamt als Fraktionsvorsitzende ausführe. Zudem sind alle Bereiche, in denen ich tätig bin, miteinander verbunden, was ich sehr mag. So entstehen neue Synergien. Am Ende des Tages gibt es aber auch deswegen selten Phasen, in denen ich nichts mache…

… Sie müssen doch auch mal entspannen. Wie sieht es mit Hobbys aus?

In der Tat rede ich auch, wenn ich entspanne (lacht). Das heißt, in der Zeit, in der ich zur Ruhe komme, habe ich ein großes Bedürfnis, mich mit Menschen zu treffen, die mir nahe sind, also meine Familie und Freunde. Aber ich fahre auch sehr gerne Ski und ich rudere zum Entspannen. Ich bin sozusagen auch zur Entspannung gern in Bewegung.

 

Das Interview führte Rena Beeg

Nicht zu vergessen, dass es Jugend debattiert auch schon in vielen anderen Ländern der Welt gibt, von Europa, Asien bis nach Amerika. Aus meiner Sicht ist Jugend debattiert letztlich ein Geschenk an die Gesellschaft. Simone-Tatjana Stehr