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Jugend debattiert News

Debatte und Religion: Kann man über Glaubensfragen produktiv streiten?

Allgemeines

Auf dem diesjährigen Kirchentag in Hannover wird es eine Premiere geben: Jugend debattiert lädt die Besuchenden dort zum ersten Mal zu einer Schaudebatte mit anschließender Gesprächsrunde ein. Am 1. Mai um 11:00 Uhr setzen sich Alumnae und Alumni mit den Argumenten für oder gegen den Ersatz von kirchlichen Feiertagen auseinander. Im Vorfeld beschäftigen wir uns mit dem Verhältnis zwischen Religion, Glauben und Debatte. Wie lässt sich ein konstruktiver Austausch organisieren und der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenwirken?

Teil 1: Die Methode Scriptural Reasoning und der Dialog zwischen den Religionen

Interview mit der Theologin Alexandra Morath

Im Mittelpunkt von Scriptural Reasoning (SR) steht das geschriebene Wort. Gläubige oder Theologen verschiedener Religionen kommen zusammen und lesen gemeinsam ausgewählte Texte aus ihren religiösen Schriften. Je nach Zusammensetzung der Gruppen stammten die Texte anfänglich aus der Bibel, dem Koran, der Tora – mittlerweile öffnen sich manche SR-Gruppen auch vielseitig interreligiös und weltanschaulich. Dabei geht es um den Austausch, nicht um Bekehrung oder Missionierung. Ihren Ursprung hat die Methode in jüdischen Lehrgesprächen, heute kommt sie besonders an Universitäten, in interreligiösen Dialoggruppen und vielen anderen Orten zum Einsatz. Besonders populär war sie vor etwa zehn Jahren, nicht zuletzt aufgrund der Corona-Lockdowns scheint die Anzahl der praktizierenden Gruppen wieder gesunken.

Eine wichtige Rolle nimmt beim SR die Moderation ein. Sie begleitet den interreligiösen Austausch und stellt sicher, dass der interreligiöse Dialog respektvoll verläuft. Die Theologin Alexandra Morath leitet seit einigen Jahren SR-Gruppen und promoviert an der Universität Salzburg zum interreligiösen Dialog. Sie hat die Methode um zwei Reflexionsstufen erweitert. Hier gehen die Teilnehmenden nach dem gemeinsamen SR-Gespräch in eine Selbstreflexionsphase. Danach kommen sie zu einer weiteren gemeinsamen Reflexion zusammen und verfassen am Ende, in einem kreativen Schreib-Prozess, einen „Dialogimpuls“, der dann z. B. bei einer religionsverbindenden Feier vorgetragen werden kann. Wir haben mit Alexandra Morath über das Potenzial von Scriptural Reasoning für unsere Debattenkultur gesprochen.

Welchen Effekt hat Scriptural Reasoning Ihrer Erfahrung nach?

„Das hängt davon ab, wie groß das Fachwissen der Teilnehmenden ist. Unter Theolog:innen geht es mehr um exegetisches Arbeiten. Wenn der Fokus eher darauf liegt, dass sich Menschen verbinden und begegnen wollen, dann nutzen wir den Text eher als Vehikel, um ins Gespräch zu kommen. Gruppen, die die verschiedenen Reflexionsphasen durchmachen, haben den Vorteil, dass Teilnehmende einen Schritt zurücktreten und nochmal in Ruhe überlegen können: Habe ich noch Fragen? Hat die andere Person etwas gesagt, das ich noch nicht verstanden habe? Möchte ich noch etwas Gesagtes umformulieren? Diese Selbstfindung finde ich sehr wichtig. Wenn wir das Gespräch wieder aufgreifen können, gelingt eine bessere Verständigung über die jeweils anderen spirituellen Verstehenswelten. Wir begegnen uns als religiöse Individuen und vertreten nicht die Gesamtheit einer bestimmten Religion.“

Glauben und Religion zählen zu den sensiblen persönlichen Lebensbereichen, wie gelingt da ein Austausch ohne Befindlichkeiten?

„Es kann schon zu emotionalen Diskussionen kommen, auch zu dem Gefühl, angegriffen zu werden. In einer meiner Gruppen hatte ein Teilnehmer einmal das Thema Liebe mit dem Neuen Testament in Verbindung gebracht, woraufhin eine jüdische Teilnehmerin zusammengezuckt ist und sich sehr angegriffen gefühlt hat. Er hat den unzeitgemäßen Gegensatz guter Gott/böser Gott in der Dialoggruppe aufgemacht. An diesem Punkt ist es okay, innezuhalten und zuzugestehen, dass wir alle unsere Bedürfnisse und Gefühle haben. Sie sind berechtigt und umso wichtiger ist es, dass ich als Moderatorin vermittle, versuche, beide Seiten darzustellen und nachzuvollziehen, aber dann wie in diesem Fall der Jüdin Recht gebe. Entscheidend ist, mit welcher Haltung man sich gegenübersteht. Tut man das wohlwollend, kommt es nicht zu Streit. Ich finde, interreligiöser Dialog muss sich den kritischen Themen widmen, sonst bringt er uns nicht weiter. Das gelingt meiner Meinung nach am besten mit einer pluralistischen Haltung, die anderen religiösen Einstellungen auf echter Augenhöhe begegnet.“

Inwieweit kann Scriptural Reasoning damit auch gesellschaftlicher Polarisierung entgegenwirken?

„Eine Entwicklung sieht man derzeit nicht nur im Bereich der Religion, sondern auch in der Politik: Wir diskutieren nicht mehr, indem wir einander zuhören, sondern es geht immer stärker darum, die eigene Position darzustellen. Ein tiefer Prozess des Zuhörens setzt aber voraus, zunächst wahrzunehmen, was die andere Person sagt, und es wirken zu lassen. So begegnet man der Person mit dem nötigen Respekt, ohne den kein Dialog zu führen ist. Diese Haltung geht in unserer Diskurs- und Debattenkultur gerade verloren. Ich hoffe, dass Scriptural Reasoning mit den verschiedenen Reflexionsebenen mithelfen kann, diese Kompetenzen wieder zu stärken – gerade wenn es um empfindliche Themen geht. Scriptural Reasoning ist dem Ursprungsgedanken nach schließlich eine friedensstiftende Methode.“

Alexandra Morath ist Theologin und promoviert an der Universität Salzburg. Als selbstständige Moderatorin leitet sie Scriptural Reasoning „mit Dialogimpuls“-Gruppen, bei Interesse kann man sie für diese Tätigkeit per Mail anfragen: alexandra.morath@elkb.de.

Die Schaudebatte von Jugend debattiert auf dem diesjährigen Kirchentag in Hannover (30. April – 4. Mai) findet am Donnerstag, den 1. Mai auf der Bühne auf dem Platz der Weltausstellung um 11:00 Uhr statt. Anschließend gibt es eine Gesprächsrunde mit Publikum. Das Thema der Debatte lautet: „Sollen kirchliche Feiertage ersetzt werden?“ Darüber hinaus ist Jugend debattiert mit einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten vertreten. Besuchen Sie uns in Halle 6, Stand C41. Wir freuen uns! 

 

 

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