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Jugend debattiert News

Debattieren – gegen die eigene Meinung?

Allgemeines

Der Wettbewerb Jugend debattiert 2022 ist in vollem Gange. Wir freuen uns auf sechzehn Landeswettbewerbe, von denen etliche wieder in Präsenz stattfinden werden.

Eine Regel des Wettbewerbs, die immer wieder für Diskussionen sorgt, lautet: Die Positionen werden durch Los zugewiesen. Das bedeutet: Man muss im Wettbewerb eventuell eine andere als die eigene Meinung vertreten. Aber kann man gegen die eigene Meinung reden und überzeugen?

Wovon überzeugen? Von der jeweiligen Meinung? Von sich selbst als Persönlichkeit? Davon, dass es die eigene Meinung ist? Schauen wir uns diese verschiedenen Möglichkeiten einmal näher an.

Ob die geäußerte Meinung die eigene Meinung ist, ist relevant, wenn von einem Redner erwartet wird, dass er auch sonst für diese Meinung einsteht. Das ist etwa der Fall bei Kandidatinnen und Kandidaten für öffentliche Ämter. Die Teilnahme an Jugend debattiert ist jedoch keine Kandidatur für ein öffentliches Amt.

Von sich persönlich zu überzeugen, wünscht sich vermutlich jeder. Was kann das in einer Debatte bedeuten? Im Kontext eines sportlichen Wettbewerbs ist nicht erforderlich, dass die Position auch über den Wettbewerb hinaus vertreten wird. Man möchte vielleicht trotzdem mit dieser oder jener Position verbunden werden, einfach, weil man sich mit ihr besonders identifiziert. Aber wird dazu debattiert?

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Nicht Identifikation, nicht Bekenntnis, sondern Erkenntnis ist der Zweck von Debatte. Deutlich werden soll, worum es bei der jeweiligen Streitfrage geht, was für und was gegen die gefragte Maßnahme spricht. Alle wichtigen Argumente sollen dargestellt und geprüft werden. Es geht darum, das Überzeugende an jeder Position herauszufinden, nicht aber, welche inneren Überzeugungen Rednerinnen und Redner in sich tragen.

Etwas anderes ist unter den Bedingungen des Wettbewerbs auch nicht sinnvoll. Die Meinungen zu einer Streitfrage sind selten genau gleich verteilt. Es ist daher nicht möglich, dass jeder stets seine eigene Meinung äußern kann. Zudem wird kein Thema gestellt, das eine der beiden Seiten massiv in Gewissensnöte bringen könnte. Wer im Wettbewerb eine Position übernimmt, spricht nicht in eigener Sache, sondern als Anwalt dieser Position – auch dann, wenn sich die Position mit der eigenen Meinung deckt. Um dies deutlich zu machen, sprechen wir im Wettbewerb bewusst von „Positionen“, nicht von Meinungen.

Selbstverständlich geht es in einer Debatte darum, zu überzeugen. Nur kommt es nicht auf die eigene Meinung an. Es geht darum, von Positionen und ihren Argumenten zu überzeugen – wieweit die Positionen tragen, erweist dann die Debatte. Anwaltliches Debattieren verlangt, sich von sich selbst zu lösen und über den eigenen Horizont hinaus zu blicken.

Sich darin zu üben, die Perspektive immer wieder zu wechseln, öffnet für die Meinungen anderer und hilft, auch deren Sicht in die eigene Meinungsbildung einzubeziehen. Die Fähigkeit, Sichtweisen anderer aufzunehmen, auch wenn wir völlig anderer Meinung sind, ist für das Zusammenleben in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft essentiell. Es ist zugleich eine zentrale Voraussetzung repräsentativer Demokratie. Nur dann ist möglich, dass Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sind.

Ansgar Kemmann

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