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Jugend debattiert News

Mein Bericht aus Berlin: Bundesfinale Jugend debattiert 2012

Aus dem Wettbewerb

Heute in einer Woche beginnt der Bundeswettbewerb von Jugend debattiert in Berlin! Als kleiner Vorgeschmack auf Bundesqualifikation und -finale 2013 berichtet Marcel Holthusen, 2. Bundessieger 2012, von seinen Eindrücken aus dem vergangenen Jahr:

"Hier kommt die Finaldebatte im Bundesfinale Jugend debattiert 2012 - unser Thema: Sollen Bewerbungsverfahren bis zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch anonymisiert durchgeführt werden?", leitet der Moderator die Debatte ein. Der Raum verdunkelt sich, die Scheinwerfer beginnen zu blenden. Tabatha Urich, ihres Zeichens Landessiegerin aus Brandenburg, startet mit ihrer Eröffnungsrede. Knapp 1600 Augen sind in diesem Moment auf die vier Debattanten gerichtet - der Saal ist voll, doch auf der Bühne ist man trotzdem völlig alleine.

Ich höre genau zu, versuche das Publikum auszublenden. Ein paar flotte Notizen, der nächste Redner. Was, wenn ich mir einen leichtfertigen Versprecher leiste, oder gar eine grobe sachliche Verfehlung? Wie verhält sich das Publikum und wie würde ich reagieren? Viele solcher Fragen hatten mich in den vergangenen Stunden beschäftigt. Ich bin als Vierter und Letzter an der Reihe. Sechs Minuten vergehen, bevor ich mein erstes Wort gesprochen haben werde - zwei für jeden in der Eröffnungsrunde, so sind die Regeln.

"Gleichberechtigung ist ein hohes Gut in unserer Verfassung", beginne ich meinen Beitrag - eine nette Feststellung ohne großen Aussagewert, aber gleichzeitig ein erster wichtiger Schritt in die Debatte. Nach den ersten zwei Sätzen ist es eine Debatte wie jede andere: Vier Redner (zwei Pro, zwei Contra), ein Bleistift, ein leerer Zettel, eine Streitfrage, eine Fachjury. Schnell befinde ich mich in dem viel zitierten "Tunnel", von dem auch Spitzensportler vor wichtigen Wettkämpfen häufig berichten. Kein Gedanke mehr an die knapp 1000 Zuschauer im Saal, kein Gedanke mehr an die Angst vor einer totaler Blamage, keine Gedanke mehr an den Bundespräsidenten in der ersten Reihe.
Stattdessen: Volle Konzentration auf die Mitdebattanten und genaues Zuhören. Argumente aufnehmen, verstehen, entkräften. Kurze aber sprachlich präzise Beiträge. Es war schließlich ein langer, manchmal beschwerlicher Weg bis in den großen Sendesaal des RBB in Berlin.

Zwei Jahre zuvor noch war ich im niedersächsischen Landesfinale als Drittplatzierter denkbar knapp an der Reise in die Bundeshauptstadt vorbeigeschrammt. So ist es für mich in gewisser Weise eine Genugtuung, diesmal dabei sein zu dürfen im Kreis der 32 besten Debattanten Deutschlands.

Mitten in der Klausurenphase zum diesjährigen Abitur nehme ich schließlich am Landessiegerseminar auf der Burg Rothenfels in Bayern teil. Viele tolle Menschen, eine gepflegte Debattenkultur, hervorragend ausgebildete Lehrkräfte, abwechslungsreiches Rahmenprogramm. Hier werden Kontakte geknüpft, Erfahrungen ausgetauscht und Freundschaften geschlossen. Die Verbindungen zwischen den Teilnehmern sind zu diesem Zeitpunkt bereits so eng, dass jeder dem jeweils anderen einen Erfolg beim Bundesfinale von ganzem Herzen gönnen würde. Favoriten gibt es bei der vorhandenen Leistungsdichte ohnehin keine mehr. Am Ende der dreitägigen Veranstaltung ist aus den vielen talentierten Landessiegern eine echte Gemeinschaft geworden und alle Beteiligten freuen sich auf das große Wiedersehen in Berlin - auf neue Geschichten und spannenden Debatten.

Die Themenbekanntgabe für den Bundeswettbewerb erfolgt im Juni. 10 Tage bleiben den Teilnehmer so, um die drei Themen - zwei für die Bundesqualifikation, eines für das Finale - gewissenhaft vorzubereiten. Meine Vorbereitung wird von der Abifahrt ins dänische Blavand in zwei Teile aufgespalten. Da ich mir einrede, eine Recherche vor der Abifahrt würde keinen Sinn ergeben, verkürzt sich meine effektive Vorbereitungszeit faktisch auf vier Tage. Ich mache mir zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben einen genauen Plan zur Nutzung der verbleibenden Zeit. Der erste Eintrag liest sich wie folgt: "Vormittag: Erholung von der Abifahrt; Nachmittag: Planung der Berlin-Reise und Vorbereitung der Jugend debattiert-AG; Abend: Public Viewing Deutschland vs. Dänemark".

Alles in Allem läuft die Vorbereitung also nicht optimal, sodass ich mir auf der Zugfahrt nach Berlin nur Außenseiterchancen auf eine vordere Platzierung ausmahle. Vom Athenaeum hat auch Frau Müller-Reineke den Weg ins nh Hotel Berlin-Alexanderplatz angetreten, Herr Wartner reist extra für das Bundesfinale am Samstag an. Besonders lustig anzuschauen ist das bunte Treiben während der Verkündung der Rednerpositionen für die Qualifikationsdebatten. Ohne Rücksicht auf Andere drängen diejenigen, die sich selber gerne als zukünftige deutsche Bildungselite bezeichnen, in Scharen an die Plakatwände und versuchen ihren Debattenpartner ausfindig zu machen. Der erste Abend ist danach ganz der konkreten Vorbereitung in den jeweiligen Zweierteams verschrieben.

Die Fragen, die am nächsten Tag debattiert werden, drehen sich um den Import von Kernenergie und mögliche Vorwahlen zur Ermittlung von Kanzlerkandidaten. Ich merke relativ schnell, dass sich etwaige Lücken in meiner Vorbereitung durch Einsicht der Dokumente meines Partners einigermaßen zufriedenstellend schließen lassen. Aus verschiedenen Gründen versuche ich zu diesem Zeitpunkt mich insbesondere den "großen Linien" zu widmen, suche übergeordnete Argumentationsebenen, Beispiele und Vergleiche.

Am nächsten Tag - meine Eltern sind extra angereist um mich moralisch zu unterstützen - wird in zwei Runden debattiert. Ich bin am Ende zwar zufrieden, weiß aber gleichwohl, dass auch fast jeder andere hier zu meinen Leistungen im Stande gewesen wäre. Bei der Siegerehrung am Abend machen es die Veranstalter noch einmal richtig spannend: So werden nicht etwa die Namen und die Schulen der Erstplatzierten bekannt gegeben, sondern individuelle Eigenschaften, die den jeweiligen Sieger beschreiben. Wer meint, sich zu erkennen, solle vortreten. "3. Platz der Bundesqualifikation - Lieblingsfarbe: Blau; Lieblingsbuch: Ich lese eher Zeitungen und Magazine; Meine Freunde schätzen mich für: Ehrlichkeit, Humor..." - ich trete vor. Welch ein Blamagepotenzial. Doch schnell erlöst mich der Moderator: "Marcel Holthusen vom Athenaeum Stade in Niedersachsen!" Ich bin einigermaßen fassungslos, mein Vater springt auf und klatscht, Applaus brandet auf. Auf diese Situation war ich tatsächlich nicht vorbereitet.

Die Presse zitiert mich später mit den Worten: "Es war von vornherein eine 'Win-win-Situation': Entweder der Einzug ins Finale oder ein entspannter Abend mit Freunden und der Nationalelf." Hintergrund dazu: Die deutsche Nationalmannschaft spielt an diesem Abend im Viertelfinale der Europameisterschaft gegen Griechenland. Ich befinde mich in der Hauptstadt der deutschen Fanszene und doch werde ich vom grandiosen 4:2-Triumph unserer Elf so gut wie nichts mitbekommen, denn die drei übrigen Finalisten und ich werden ab diesem Zeitpunkt weitestgehend von der Öffentlichkeit abgeschottet. Meine Eltern sehe ich nur noch kurz.

In einem Konferenzraum werden wir zu einer fokussierten Vorbereitung des verbliebenen Debattenthemas aufgerufen. Verschiedene Trainer und Organisatoren stehen uns mit Rat und Tat zur Seite, der gesamte Ablauf der Veranstaltung wird mehrfach durchgegangen und wir erhalten ein Dokument zum richtigen Umgang mit den Medien. Die Teambildung und die Positionsauswahl wird schließlich uns überlassen. Meine drei Mitstreiter wollen allesamt die Pro-Seite übernehmen, weshalb ich mich letztendlich ohne große Diskussionen (ja, auch das gibt es hin und wieder mal bei "Jugend debattiert") für die Contra- Seite melde. Bei der weiteren Vorbereitung wird deutlich, dass das Bundesfinale letztendlich einer großen "Jugend debattiert-Show" gleicht. Die Argumente der Gegenseite sind weitgehend bekannt, Alles muss sitzen. Auch die Preise sind an dieser Stelle schon vergeben: Aufnahme in das Alumni- Programm, Qualifikation für das Bundessieger-Seminar und Händedruck des Bundespräsidenten - gleiche Auszeichnungen für die besten vier.

Endlich erschließt sich mir, warum wir auf dem vorbereitenden Seminar so lange das Aufstehen vom Sitzplatz und den Gang zum Rednerpult erprobt hatten. "Das Finale ist maßgeblich für das öffentliche Bild dieses Wettbewerbs" lautet die Quintessenz eines langen Abends. Als sich die illustre Runde in der Nacht schließlich auflöst, schleiche ich zurück in mein Hotelzimmer und habe erstmals etwas Zeit, ernsthaft über den nächsten Tag nachzudenken.

Mein Zimmernachbar ist mit einigen Freunden ins Berliner Nachtleben gezogen und hat mir seine Vorbereitung auf die Finalfrage mit einem freundlichen Gruß auf dem Bett liegen lassen: "Ich brauche das ja nicht mehr - du packst das Junge!" steht dort geschrieben und tatsächlich leiste ich mir noch den einen oder anderen flüchtigen Blick auf die Unterlagen. Mit Stolz blicke ich auf den vergangenen, mit Vorfreude auf den kommenden Tag. Wie oft bekommt man schon die Gelegenheit, vor dem Bundespräsidenten zu debattieren? Trotz meiner innerlichen Unruhe schlafe ich relativ früh ein und werde erst gegen 4:00 Uhr morgens von meinem Zimmernachbarn und seinen Freunden geweckt. Der Landessieger aus Rheinland-Pfalz drückt mir wie selbstverständlich eine halbvolle Bierflasche in die Hand. Ich nehme schlaftrunken ein paar Schlucke und bedanke mich für die Unterlagen.

Um 5:30 Uhr klingelt dann mein Wecker. Ich überfliege ein weiteres Mal die mittlerweile willkürlich in meinem Bett verteilten Zettel, bevor ich mich fertig mache für den großen Tag. Die Kleiderordnung lässt wenig Platz für Individualität: Keine T-Shirts, keine großen Markenlabel, keine Werbung, aber auch keine Anzüge oder Krawatten. Als wir nach einem ausgedehnten Frühstück im großen Sendesaal des RBB ankommen, ist die Nervosität bereits bei Allen spürbar. Nachdem alle Bühnentests von Statten gegangen und wir ordnungsgemäß verkabelt sind, werden die Zuschauer in den Saal gerufen. Wir hingegen treffen in einem Kellerraum letzte Vorbereitungen. Wie bereits die Tage zuvor versuche ich auch heute der Nervosität mit etwas Musik Herr zu werden. Kay One, Snoop Dog und Reinhard Mey wechseln sich auf meinem iPhone ab.

Wenig später betritt schließlich Bundespräsident Joachim Gauck den Raum und versprüht sofort eine ganz besondere Aura. Die Debatte selbst dauert auch heute nur 24 Minuten. Sie ist hervorragend geführt, deckt alle relevanten Themenfelder ab, entspricht einem sprachlich sehr hohen Niveau und wird später von Jury und Initiatoren als "eine der besten Bundesfinaldebatten aller Zeiten" bezeichnet. Als letztem Redner ist mir das Schlusswort vorbehalten: "Ich stimme euch zu, dass wir Gleichberechtigung zweifelsfrei brauchen - Aber nicht auf diesem Wege und nicht für diesen Preis. Deshalb spreche ich mich weiter dagegen aus, dass Bewerbungsverfahren bis zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch anonymisiert durchgeführt werden." Viele Zuschauer quittieren die Debatte mit stehenden Ovationen. Es macht großen Spaß, in diesem Moment vor diesem Publikum zu sprechen. Der Druck fällt von mir - alles Weitere liegt nicht mehr in meiner Hand.

So stellt der Moderator zur Überbrückung der Juryberatung einige Fragen an uns und wir antworten plötzlich völlig unverkrampft. Ob jeder von den Teilnehmern auch einen guten Politiker abgeben würde, fragt er mich. "Nein, nicht zwingend, denn es ist ein großer Unterschied, ob man über politische Probleme spricht, oder ob man aktiv für Lösungen eintritt und Verantwortung übernimmt". Erstmals traue ich mich, bewusst auf die Reaktion des Bundespräsidenten zu achten. Dieser ist zu meiner Freude einer der ersten, der mir mit einem entschlossenen Nicken und einem kräftigen Applaus Zustimmung zu dieser Aussage signalisiert.

Die Siegerehrung ist der letzte Akt dieser gelungenen Veranstaltung. Joachim Gauck betritt die Bühne und die Platzierungen werden bekannt gegeben. So hat jeder einzelne Finalist noch einmal seinen wohlverdienten Solo-Auftritt auf der großen Bühne. Als ich für die Ehrung des zweiten Platzes nach vorne gerufen werde, genieße ich jeden Schritt in vollen Zügen. Der Bundespräsident gratuliert sehr herzlich und flüstert mir ein Geheimnis ins Ohr. "Aber nicht den Medienvertretern sagen", zwinkert er mir zu bevor das Siegerfoto aufgenommen wird. "Es ist mir eine große Ehre, diese Urkunde von Ihnen entgegen nehmen zu dürfen. Vielen Dank Herr Bundespräsident", lautet meine zugegebenermaßen recht einstudiert wirkende Antwort auf seine Glückwünsche.
Als wir nach der Veranstaltung am großen Empfang teilnehmen sollen, verstehe ich, warum wir in der Nacht zuvor im Umgang mit Medien geschult worden waren: Sofort schneiden Kamerateams uns den Weg ab, unzählige Journalisten drängen auf Antworten für ihre Fragen. Hier habe ich sogar Glück, als Niedersachse zu einem Auswärtsspiel angetreten zu sein: Der Berliner York von Negenborn hatte den Wettbewerb gewonnen, auf den Plätzen drei und vier folgten zwei Brandenburger. Für mich interessiert sich beispielsweise die TAZ, und auch die ARD-Journalisten der Tagesschau führen ein Kurz- Interview mit mir. Von allen Seiten mischen sich Fotografen in die Menge, wildfremde Menschen gratulieren mir herzlich zu meinem Erfolg und verschiedene Universitäts- bzw. Stiftungsvertreter stecken mir ihre Karten zu. Die neu geknüpften Kontakte sind wohl ein wichtiger Bestandteil des Preises, den ein Jugend debattiert-Bundessieg mit sich bringt. Nach einiger Zeit dringe ich dann endlich zu meinen Eltern durch, mein Vater hat mir ein wenig Essen vom leckeren Buffet reserviert. Ich freue mich, das in diesem Kreis bis dato weitgehend unbekannte Athenaeum repräsentieren zu dürfen.

Als einer der Letzten verlasse ich den Empfang, bedanke mich persönlich bei den Organisatoren und trete meine Reise zurück ins Hotel an, wo mein Zimmernachbar auf mich wartet und mich herzlich beglückwünscht: "Das Bier gestern Nacht hat den Unterschied gemacht", scherzt er. Am Abend machen wir gemeinsam die Berliner Nachtclubs unsicher.

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